13. Stärke; eine Neudefinition

In den ersten Wochen nach meiner Diagnose verging kaum ein Tag, an dem ich niemanden getroffen hätte. Für die Zeit, die sich meine Lieben für mich genommen haben, war und bin ich wahnsinnig dankbar. Ich habe oft von negativen Erfahrungen anderer Krebsbetroffenen gelesen, von sich abwendenden Freunden und überforderten Bekannten. Und auch mein Umfeld war überfordert. Dennoch waren so viele Menschen stets für mich da, schrieben Nachrichten, Briefe und Karten, besuchten mich, boten Hilfe an, gingen mit mir spazieren und Kaffee trinken, stellten Fragen, sprachen mir gut zu und nahmen es mir nicht übel, wenn ich mal schlecht drauf war. Ich kann gar nicht genug betonen, wie viel mir diese Gesten bedeuten und wie viel schwerer ein Weg mit Krebs ohne solch wertvolle Unterstützung wäre.

Doch egal wie toll das persönliche Umfeld auch ist, eine professionelle psychologische Betreuung ersetzt es nicht - zumindest nicht in meinem Fall. Nicht, wenn die eigene Überforderung vor lauter Funktionieren gar nicht wahrgenommen wird. Nicht, wenn Hilfe zwar angeboten, aber niemals angenommen wird. Und schon gar nicht, wenn sich die persönliche Stärke danach bemisst, möglichst stoisch und emotionslos durch die Therapie zu kommen.

Als Person, die Herz und Emotionen nicht immer auf der Zunge trägt, fiel (und fällt) es mir schwer, meine Überforderung zu erkennen, geschweige denn einzugestehen oder anzusprechen. Viel einfacher war es, die Therapie als To-do-Liste anzusehen und Punkt für Punkt abzuarbeiten. Meine Termine hielten mich auf Trab, lenkten mich ab und gaben mir eine Rechtfertigung, mich nicht mit mir selbst auseinanderzusetzen.

Bis ich mich im Zimmer einer Psychologin wiederfand und mich plötzlich eine ganze Stunde lang bloss damit befassen sollte - die längste Stunde des gesamten Behandlungswegs.

Ich hatte am Montag, 20. Juni 2022, als ich direkt nach meiner ersten Chemo mit dem neuen Medikament erstmalig zur Psychonkologin ging, nicht den Eindruck, Hilfe zu benötigen. Dass ich dann im Gespräch innert weniger Sekunden in Tränen ausgebrochen bin und während einer Stunde nicht aufgehört habe zu weinen, hat mich entsprechend irritiert. Schliesslich hatte ich hatte in der Zeit seit der Diagnose kaum geweint und nie mit der Situation gehadert, weshalb ich mir meine Tränen selbst nicht erklären konnte. Sie passten nicht in mein Selbstbild der starken Patientin, die mit erhobenem Kopf durch die Therapie marschiert. Ein Bild, das ich in erster Linie für mich selbst kreiert hatte, das aber auch von aussen viel Zuspruch erhielt. Ich wurde für meine Stärke bewundert, war Inspirationsquelle und Vorbild. Und warum auch nicht? Schliesslich ist es schön, zu sehen, dass jemand mit einer schwierigen Situation offensichtlich ganz gut klarkommt. Dass es sich dabei nicht immer um die ganze Wahrheit handelt, weiss die betroffene Person manchmal nicht mal selbst.

Doch viel inspirierender als falsche Stärke wäre ehrliche Schwäche. Dieser Blog ist ein Versuch, Schwierigkeiten zu benennen, mich selbst damit zu konfrontieren und aufzuzeigen, dass sich Stärke und Emotionalität nicht ausschliessen. Ebensowenig ist Stärke das Ergebnis von Selbständigkeit oder ein Produkt ausgeschlagener Hilfeleistung. Sie ist Verletzlichkeit, Offenheit - und manchmal Zumutung.

So wie auch dieser Blog Zumutung sein kann. Wer mich nur als vermeintlich starke Patientin erlebt hat, liest hier die Kehrseite. Weil ich heute weiss, dass mein Umfeld das aushalten kann. Mich aushalten kann. Und weil ich gelernt habe, dass Schwäche meine wohl liebste Form von Stärke ist.

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14. Die Hochs und Tiefs eines Chemo-Zyklus

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12. Eine neue Therapie und ein Haus zum Geburtstag